15. Juni 2025
Foto von Saad Salim auf Unsplash

Hamburgs Arbeitsmarkt zwischen Krise und Wandel

Zum Jahreswechsel konnte man auf den großformatigen Infobildschirmen in der U-Bahn die Nachricht lesen: „Neuer Höchststand an Beschäftigung 2024!“ – Offensichtlich sollte diese Meldung eine positive sein, weitere Informationen gab es nicht. Dabei passiert es nur selten, dass sich arbeitsmarktpolitische Themen in die Redaktionshäuser verirren. Aber was sagt eine solche Info eigentlich aus?

Arbeitslosigkeit
Zum Jahresende 2024 waren in Hamburg knapp 88.000 Menschen arbeitslos gemeldet. Im Jahresverlauf waren es durchschnittlich 88.500, mit leichten Schwankungen – eine Steigerung von 5.369 oder 6,5 % gegenüber dem Vorjahr. Davon waren knapp 30.000 Empfängerinnen von originärem Arbeitslosengeld im Rechtskreis des Sozialgesetzbuches III (SGB III) und knapp 60.000 Empfängerinnen von Bürgergeld im Rechtskreis Sozialgesetzbuch II (SGB II). Auch dieses Verhältnis von ungefähr 1:2 zwischen Arbeitslosen und Bürgergeldempfänger*innen ist leider recht stabil.

Nun sind die Arbeitslosenzahlen ein wichtiger Indikator zur Beurteilung des Arbeitsmarktes; ebenso wichtig und vielleicht noch aussagekräftiger sind die Zahlen der Unterbeschäftigung, also Personen, die sich in Weiterbildungsmaßnahmen befinden oder dem Arbeitsmarkt kurzfristig nicht zur Verfügung stehen. Und das sind in Hamburg 114.609 – eine Steigerung um 4,3 % im Vergleich zum Vorjahresmonat 2023. Außerdem sind die noch Beschäftigten zu berücksichtigen, die bereits gekündigt sind oder ein befristetes Arbeitsverhältnis haben: in Hamburg sind das 32.164.

Insgesamt sind 30,8 % der gemeldeten Erwerbslosen Langzeitarbeitslose. Die Schwerbehinderten sind mit 4,1 % etwas unterdurchschnittlich in der Statistik vertreten.

Zurück zur gestiegenen Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten: Was zunächst einmal positiv klingt und im Widerspruch zur gestiegenen Arbeitslosigkeit zu stehen scheint, löst sich mit einem Blick auf das Arbeitsvolumen auf. Erst 2015/2016 wurde das Arbeitsvolumen von 1992 wieder erreicht und ist seitdem angestiegen – mit einem leichten, wohl coronabedingten Einbruch ab 2020. 2023 hat es das Niveau von 2019 noch nicht wieder erreicht. Der reale Zuwachs erklärt sich durch eine extrem starke Zunahme an Teilzeit (wohl auch ‚Zwangsteilzeit‘ – es wurden einfach kleinere Vollzeitverträge angeboten). Die Zahl der Vollzeitverträge ist sogar leicht gesunken. Über 93 % der neuen zusätzlichen Beschäftigungen wurden von ausländischen Arbeitnehmerinnen übernommen – dies als ein kleiner Hinweis an die Politikerinnen, die gern von „Rückführung“ und „Remigration“ schwadronieren.

Doch das politische Klima hat sich gedreht: Fast alle kleinen Verbesserungen wurden zurückgenommen. Eine Welle der Diskriminierung gegenüber Bürgergeldempfänger*innen rollt durch die Gesellschaft – Hartz IV ist wieder da, wir sind zurück im Jahr 2005.

Olga Fritzsche

Zum Gesamtbild des Hamburger Arbeitsmarktes gehören noch die Minijobber*innen: knapp 164.500 in Hamburg, bundesweit 7,6 Mio., davon knapp 55 % in ausschließlicher Beschäftigung, die anderen im Nebenjob.

Zwischenbilanz
Der Hamburger Arbeitsmarkt ist alles andere als vorbildlich oder in einer guten Verfassung. Die Arbeitslosenquote liegt mit 8 % zwei Prozentpunkte über dem Bundesdurchschnitt, auch die Unterbeschäftigung liegt über dem Bundesdurchschnitt. Die Anzahl der offenen Stellen, ein nur bedingt aussagekräftiger Wert, stagniert. Die aktuelle Wirtschaftskrise hat noch nicht voll auf den Arbeitsmarkt durchgeschlagen, insofern sind die offiziellen Aussagen, die von einer gewissen Robustheit des Arbeitsmarktes sprechen, berechtigt. Der typische Frühindikator Kurzarbeit, genauer die Anzahl von Kurzarbeitsanzeigen bei den Agenturen für Arbeit, hat zwar leicht zugenommen, bislang aber nicht in einem dramatischen Ausmaß. Allerdings rechnet selbst die Bundesagentur für Arbeit mit einem Anstieg der Arbeitslosigkeit im Laufe des Jahres 2025. Das gilt auch für Hamburg!

Ein geweiteter Blick auf den Arbeitsmarkt
Für eine umfassendere Beurteilung des Arbeitsmarktes ist ein erweiterter Blick notwendig – und dann ergibt sich ein noch dramatischeres Bild. Hier wird von einer Verwilderung der Arbeitsbeziehungen und einer „prekären Vollerwerbsgesellschaft“ (Klaus Dörre) gesprochen. Nur einige Aspekte:

  • Die zunehmende Anzahl von Arbeitstätigkeiten am Rande oder jenseits der üblichen sozial- und arbeitsrechtlichen Standards, etwa bei Lieferdiensten, in privaten Haushalten oder bei sog. Cloud- und Clickworker*innen.
  • Die dramatisch weiter sinkende Tarifbindung – Hamburg liegt hier auf dem vorletzten Platz aller Bundesländer.
  • Der Niedriglohnsektor mit 20,2 %, also etwa jede*r fünfte Beschäftigte zählt dazu, insgesamt ca. 7,9 Mio. Beschäftigte. Der gesetzliche Mindestlohn ab 2015 sowie die wenigen Branchenmindestlohntarifverträge haben hier kaum für Entspannung gesorgt (Entwicklung von 24 % im Jahr 2011 auf 21,2 % im Jahr 2022).
  • Die daraus resultierende Armutsgefährdung, Hamburg liegt mit 18,8 % zwar im Mittelfeld der Großstädte, als Bundesland aber nur vor den beiden anderen Stadtstaaten sowie Sachsen-Anhalt und dem Saarland – aber hinter Schleswig-Holstein, Mecklenburg-Vorpommern und Niedersachsen.
  • Die Befristungen von Arbeitsverträgen sind weiterhin weit verbreitet: 37,2 % aller neu abgeschlossenen Arbeitsverträge sind befristet – mit beträchtlichen Unterschieden zwischen den Branchen. Spitzenreiter sind Erziehung und Unterricht mit 67,8 %, während das Gastgewerbe und das Gesundheitswesen unter 50 % liegen.

Ein solcher Blick zeigt: Der Arbeitsmarkt und die Beschäftigung sind ausgefranst. Das sog. Normalarbeitsverhältnis – unbefristet, tarifgebunden und mit solidem Einkommen – wird weiter zurückgedrängt, während atypische und prekäre Beschäftigungsverhältnisse zunehmen. Der Arbeitsmarkt insgesamt weist große Schieflagen und innere Brüche auf, die allein mit den Arbeitslosenzahlen nicht erfasst werden. Und all diese Aspekte prägen auch den Hamburger Arbeitsmarkt!

Was kann der Hamburger Senat machen?
Auch wenn die Mehrzahl der Gesetze und Verordnungen zum Arbeitsmarkt Bundesangelegenheit ist, kann der Senat auf verschiedenen Ebenen aktiv werden. Der oft angeführte Verweis auf den Bund – „Wir können hier nichts machen“ oder „Uns sind die Hände gebunden“ – trifft einfach nicht zu.

Neben einer beschäftigungswirksamen Wirtschaftspolitik kann und müsste der Senat:

  • Ein hamburgisches Tariftreuegesetz verabschieden, das zumindest bei allen öffentlichen Investitionen und Ausgaben eine Tarifbindung der jeweiligen Auftragnehmer*innen zwingend voraussetzt.
  • Die arbeitsmarktpolitischen Instrumente, die die Agentur und das Jobcenter anwenden (können), auch selbst mit eigenen Mitteln einsetzen, etwa durch Qualifizierungsmaßnahmen für unterschiedliche Zielgruppen und subventionierte Beschäftigung, insbesondere für Langzeitarbeitslose. Der Senat war hier früher in beträchtlichem Maße tätig, heute geschieht dies nur noch in geringem Umfang, meist in Mischfinanzierung und mit Nutzung von Drittmitteln, etwa aus EU-Fonds.
  • Schließlich kann der Senat Maßnahmen zur Armutsprävention und -bekämpfung ergreifen – wenn er denn will.

Zwar nicht unmittelbar arbeitsmarktpolitisch, aber dennoch relevant sind die Sprachkurse für Migrant*innen und Geflüchtete, die vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) vergeben und vom Bundesinnenministerium finanziert werden. Der Grundsatz „erst Sprachlernen, dann Vermittlung in Arbeit“ wurde nach und nach aufgegeben. Mit dem sog. Jobturbo im Herbst 2023 sollen Arbeit und Sprachlernen parallel verlaufen. Allerdings sieht der Entwurf des Bundeshaushalts 2025 massive Kürzungen dieser Mittel vor. Mangelnde Deutschkenntnisse jedoch sind oft der entscheidende Hinderungsgrund für eine erfolgreiche Arbeitsmarktintegration.

Gesetzliche Veränderungen
Mit dem Haushaltsfinanzierungsgesetz 2024, im Dezember 2023 verabschiedet, wurde kurzerhand entschieden, bestimmte Qualifizierungsmaßnahmen für Bürgergeldempfänger*innen von den Jobcentern auf die Arbeitsagenturen zu verlagern. Diese Neuerung ist weder sachlich noch organisatorisch begründet, sondern allein finanzpolitisch motiviert: Durch die Verlagerung sollen die steuerfinanzierten Jobcenter um ca. 900 Mio. Euro entlastet werden – zahlen sollen die Agenturen aus dem beitragsfinanzierten Haushalt der Bundesagentur, also aus den Beiträgen zur Arbeitslosenversicherung.

Die Abläufe zur Bewilligung von Qualifizierungsmaßnahmen werden so komplizierter – sowohl für Bürgergeldempfänger*innen als auch für die Beschäftigten in den Jobcentern und Agenturen. Und das alles nur für einen politisch gewollten, dreisten Griff in die Kasse der Versicherten. Ab Januar 2025 muss diese Umstrukturierung umgesetzt werden. Wir werden sehen, ob das funktioniert.

Mit dem Gesetz zum Bürgergeld wollte die SPD die Schmach der Hartz-Gesetze überwinden. Neben der neuen Bezeichnung gab es einige Verbesserungen, wie Bonuszahlungen während einer Qualifizierungsmaßnahme oder die Aufgabe des sog. Vermittlungsvorrangs. Der Umgang zwischen Jobcenter und Bürgergeldempfänger*in sollte partnerschaftlicher gestaltet werden, und Sanktionen sollten nur noch in bestimmten Fällen verhängt werden.

Doch das politische Klima hat sich gedreht: Fast alle kleinen Verbesserungen wurden zurückgenommen. Eine Welle der Diskriminierung gegenüber Bürgergeldempfänger*innen rollt durch die Gesellschaft – Hartz IV ist wieder da, wir sind zurück im Jahr 2005.

Im Jahr 2024 wurden 5,5 Mio. Bürgergeldempfänger*innen registriert, darunter knapp 4 Mio. erwerbsfähige Leistungsberechtigte und ca. 1,5 Mio. nicht erwerbsfähige, meist Kinder und Jugendliche. Von den 4 Mio. Erwerbsfähigen waren 1,7 Mio. (44 %) arbeitslos, 819.000 davon erwerbstätig, zumeist abhängig beschäftigt. Die Bundesagentur schätzt die Zahl der sog. Totalverweigerer, die Leistungen beziehen und jegliche Kooperation verweigern, auf 13.000 bis 16.000 Personen – weniger als 1 Promille aller Berechtigten.

Diese Fakten zeigen deutlich: Die Debatte über das Bürgergeld wird nicht mit Sachkenntnis, sondern mit Vorurteilen und politischem Kalkül geführt. Ein sozial gerechter Arbeitsmarkt bleibt eine politische Herausforderung – auch und gerade in Hamburg.

Foto von Saad Salim auf Unsplash